Geschwisterpositionen

Warum wetteifert der Meier ständig mit dem Schulze und wieso himmelt Frau Linde ihren Chef eigentlich so dermaßen an? Was treibt Kollege Binz dazu, sich gern bemuttern zu lassen und warum sind die beiden jungen Office-Kolleginnen sich überhaupt nicht grün? Weshalb kommt ausgerechnet die Neue so gut mit dem IT-ler Männertrupp klar?

Wer mit wem wie gut kann – oder eben auch nicht, hängt unter anderem davon ab, in welcher Geschwisterposition wir groß geworden sind. Nach Walter Toman, Psychologe und Autor von „Familienkonstellationen. Ihr Einfluss auf den Menschen und seine Handlungen“, wirkt sich die Rolle innerhalb der Familie, also ob wir Geschwister- oder Einzelkind sind, auf die Beziehungen der Eltern untereinander und zu den Kindern aus. Auch die Reihenfolge der Geschwister, also wer der ältere und jüngere Part ist, trägt zu bestimmten Verhaltensmustern von Eltern und Kindern bei. Muster, die sich wiederum auch in das weitere Leben und die späteren Kontakte zu anderen Menschen außerhalb der Familie tragen und in unterschiedlichen privaten oder beruflichen zwischenmenschlichen Beziehungen zeigen. Ein Blick auf die verschiedenen Geschwisterkonstellationen macht deutlich, wie diese uns als Menschen beeinflussen.

Was zeichnet die zehn Haupttypen von Geschwisterpositionen aus?

1. Geschwisterposition „Zwei Brüder“

Der ältere Bruder eines Bruders
Der große Bruder gewöhnt sich mit der Geburt seines kleinen Bruders an das Zusammenleben mit einem weiteren Jungen. Er lernt als der Größere von beiden verantwortungsvoll und führend zu handeln. Auch wenn es ihm zunächst kaum gefällt, zugunsten des kleinen Bruders auf manches zu verzichten, akzeptiert er es doch und nimmt auf den Jüngeren Rücksicht. Je älter die Brüder werden, desto eher kann er auch mal eine Gegenleistung vom Kleineren verlangen und wird dabei auch von den Eltern unterstützt. Brenzlig wird es, wenn der jüngere Bruder anfängt, mit dem Älteren zu wetteifern. Es kommt zu einem Konflikt um Macht, der bei einem geringeren Altersunterschied stärker ausgeprägt ist. Sind die Brüder mehr als vier Jahre auseinander, wird besonders dem älteren Bruder klar, dass die Mutter durch drei geteilt werden muss und man sie nicht für sich allein hat. Auch der jüngere Bruder merkt das irgendwann, so dass auch immer eine gewisse Rivalität in puncto Zuneigung um die Mutter herrscht. Außerhalb der Familie zeigen sich ähnliche Verhaltensmuster in Beziehungen. Spielkameraden wird der ältere Bruder zum Beispiel ebenso verantwortungsvoll gegenübertreten.

Der jüngere Bruder eines Bruders
Dem jüngeren Bruder wird mit etwa zwei oder drei bewusst, dass neben ihm ein Junge aufwächst, der ihm überlegen ist. Er ist älter, größer, klüger, stärker, einfach perfekter. Was er zunächst vielleicht bewundert, setzt ihn später unter Druck, will und muss er doch mit ihm mithalten – ansonsten drückt der große Bruder ihm doch seinen Willen auf. Höher, schneller, weiter wird zum Leitmotiv für den Jüngeren auch außerhalb der Familie. Trifft er auf Personen seines Alters, ist er ständig dabei, sich zu beweisen, andere einzuholen und sich ihnen zu widersetzen.

2. Bruder und Schwester als Geschwisterposition

Der ältere Bruder einer Schwester
Je nachdem, wie groß der Altersunterschied von Bruder und Schwester ist, erlebt der große Bruder einer Schwester die Beziehung anders. Liegen zwischen ihnen nur ein bis zwei Jahre, spielt das Geschlecht für ihn erstmal keine Rolle. Somit empfindet er die Schwester auch als Konkurrentin um die Zuneigung der Eltern. Ist der Bruder dagegen vier bis fünf Jahre älter, fällt es ihm leichter, seine kleine Schwester zu akzeptieren, denn er merkt, dass sie ein Mädchen ist und wetteifert nicht mit ihr. Er erlebt die Bruder-Schwester-Beziehung als Vater-Mutter-Beziehung.

Jüngere Schwester eines Bruders
Sie verhält sich besonders weiblich, blickt zu ihrem großen Bruder auf und akzeptiert seine Fürsorge und auch Führung. Das genießt sie sogar und lässt sich gern „schwere Dinge“ abnehmen wie körperliche Arbeiten. Außerdem mag sie es, wenn er sie vor größeren Kindern in Schutz nimmt und verteidigt.
Auch bei den Eltern gilt sie als kleiner Liebling und wird so behandelt. Fehler werden vom Vater, aber auch der Mutter öfter nachgesehen als beim großen Bruder.
Alle Familienmitglieder scheinen unbewusst in dieser Konstellation aus Mutter, Vater, Bruder und Schwester zu erkennen, dass die Beziehung beider Geschlechter untereinander in mehrfacher Weise gepflegt werden können. So spielen Bruder und Schwester miteinander Vater und Mutter, der Bruder gegenüber der Mutter den Vater, die Schwester Mutter im Zusammensein mit dem Vater. Meist können sich der Bruder mit dem Vater und die Schwester mit der Mutter problemlos identifizieren.

3. Die Geschwisterposition von Schwester und Bruder

Ältere Schwester eines Bruders
Als ältere Schwester genießt sie es, einen jüngeren Bruder zu haben. Sie bemuttert ihn, beschützt ihn und übernimmt für ihn Verantwortung. Im Gegenzug blickt er zu ihr auf, schätzt und liebt sie.
Da der Bruder als erster geboren und einziger Junge in der Familie ist, glaubt die große Schwester, er wäre wichtiger und würde bedeutsamer sein als sie selbst. Daher sorgt sie sich umso mehr um ihn mit dem Ziel, die Gunst der Eltern auf sich zu ziehen. Wenn die Schwester deutlich älter, also vier bis fünf Jahr ist, fällt es ihr leicht, sich an den kleinen Bruder zu gewöhnen. Anders zeigt sich die Schwester, wenn sie nur ein oder zwei Jahre älter ist. Denn: Sie fühlt sich in ihrer Existenz bedroht, erst mit etwa fünf erkennt sie die Vorteile und ihre zugedachte Fürsorgerolle. Auch außerhalb der Familie versteht sie sich gut mit Jungen, errät deren Interessen, macht sie auch zu ihren und ordnet ihre eigenen Interessen unter. Ihren Erfolg kann sie gut akzeptieren, wenn sie wiederum ihre Mütterlichkeit und Fürsorge akzeptieren.
Sie spendet gern Trost, genießt dabei aber auch die Genugtuung.

Jüngerer Bruder einer Schwester
Der jüngere Bruder einer Schwester darf seine Wünsche und Interessen relativ unbekümmert ausleben. Ihm wird mehr erlaubt als seiner großen Schwester. Je älter er wird, desto besser kann er sich zwar in seine Schwester hineinversetzen, nutzt dies jedoch eher um seiner selbst willen. Das Bemuttern und die Fürsorge seiner großen Schwester nimmt er als selbstverständlich. Erfüllt die Schwester die Rolle mal nicht, ist es ihm ein Leichtes sie wieder dazu zu bewegen. Auch andere Mädchen außerhalb der Familie drängt er unbewusst in die Mutterrolle. In der Familie kann es dann zu Auseinandersetzungen kommen, drückt er sich davor, die Vaterrolle gegenüber Schwester und Mutter zu übernehmen. Der Vorwurf lautet dann, dass er zu wenig selbstlos und fürsorglich sei, stattdessen lieber an sich selbst denke und mache, was er wolle.

4. Zwei Schwestern als Geschwisterposition

Ältere Schwester einer Schwester
Ist die große Schwester nur ein bis zwei Jahre älter, macht ihr das Teilen der Eltern besonders stark zu schaffen. Sind es zwei oder drei Jahre Unterschied, merkt sie, dass es ihr schwerfällt, die Aufmerksamkeit der Eltern auf sich zu ziehen, da immer noch die Schwester da ist. Sind die Schwestern vier bis fünf Jahre auseinander, konkurriert die Ältere mit der Mutter um den Vater. Mit der Zeit lernt sie es, ihre Eifersucht auf die jüngere Schwester in den Griff zu bekommen und verantwortungsvoll zu handeln. Sie schlüpft in die Rolle der Mutter und gilt für die Jüngere als Vorbild, das auch befehlen und anordnen darf. Auch die Vaterrolle nimmt sie zu gewissen Teilen an und spiegelt das Verhalten des Vaters zur Mutter in ihr Verhalten zur Schwester. Die große Schwester merkt, dass der Vater zur kleinen Schwester milder und nachsichtiger ist als zu ihr und der Mutter. Daher glaubt sie, der Vater hätte die Schwester lieber. In der Familie kennt man sie als gehorsam und selbstlos.

Jüngere Schwester einer Schwester
Zunächst ist die ältere Schwester für die Jüngere eine Autoritätsperson und Vorbild. Sie möchte genauso sein wie sie und eifert ihr deshalb nach. Wird sie etwas älter, wendet sich das Blatt und sie versucht sich zu behaupten, die Dinge sogar besser zu machen, mindestens aber genauso gut. Schnell lernt sie, sich ihrer Schwester zu widersetzen, bleibt aber anfangs doch immer irgendwie abhängig von den Ideen ihrer großen Schwester. Das zeigt sich darin, dass sie ihre Pläne immer dann erst macht, wenn sie weiß, was die Schwester vorhat. Meist ist die jüngere Schwester der Liebling der Eltern, insbesondere des Vaters. Mutter und Vater verhalten sich ihr gegenüber toleranter, da sie unbewusst glauben, die Jüngere solle machen, was sie wolle.

5. Geschwisterposition: Ein Bruder mit zwei oder drei Schwestern

Älterer Bruder
Entwickelt sich sozial ähnlich wie der ältere Bruder von nur einer Schwester

Jüngerer Bruder
Entwickelt sich ähnlich wie der jüngere Bruder von nur einer Schwester

Für beide gilt:
Da es zwei Mädchen in der Familie gibt, bekommt der Bruder eine Sonderstellung, gilt als kostbarer. Der Bruder von Schwestern kann seine Rolle gleich an zwei Mädchen üben und lernt somit mehr Facetten der Beziehung zwischen einem Mädchen und Jungen kennen.

6. Mehrere Brüder bei den Geschwisterpositionen

Ältester Bruder
Er übertrifft in seiner Markanz und Ausgeprägtheit seiner Merkmale den ältesten Bruder eines einzigen Bruders.

Jüngster Bruder
Er ist in seinen Merkmalen noch typischer als der jüngste Bruder von nur einem Bruder

7. Geschwisterposition: Eine Schwester von mehreren Brüdern

Älteste Schwester
Sie ist meist noch fürsorglicher, verantwortungsvoller und führender als die ältere Schwester von nur einem Bruder.

Jüngste Schwester
Sie ist noch femininer und verwöhnter, aber auch anlehnungsbedürftiger als die jüngere Schwester nur eines Bruders.

8. Nur Schwestern als Geschwisterposition

Älteste Schwester
Wirkt sehr dominant, da sie sich noch stärker mit den Eltern bzw. dem Vater identifiziert.

Jüngste Schwester
Sie ist noch ehrgeiziger und führungsbedürftiger und auch oppositionsfreudiger als die jüngere Schwester einer Schwester.

9. Einzelkinder

Einzelkinder sind überwiegend mit ihren Eltern zusammen und bekommen mehr Zeit und Zuwendung als Kinder, die mit Geschwistern aufwachsen. Bis zur Krippe/Kindergarten sind Sie kaum auf den Kontakt mit anderen Kindern vorbereitet. Wie sich Mann und Frau zueinander verhalten, lernen sie durch die Beobachtung der Eltern. Erst im Kindergarten erleben viele Einzelkinder den Schock, dass es auch andere Kinder für Erwachsene gibt. An die neue Situation gewöhnen sie sich durch die Lehrperson, weniger durch den Kontakt zu den anderen Kindern. Auf andere Kinder wirken sie oft als Streber, Egoist oder Nesthäkchen, weil sie im Umgang mit Erwachsenen geübter sind. Dem Vater gegenüber treten sie auf wie die Mutter und umgekehrt. Außerhalb der Familie legen sie auf eine Sonderbehandlung wert, werden gern gelobt und stehen im Rampenlicht, fordern Unterstützung ein. Das Verhalten von Einzelkindern hängt auch von der Geschwisterposition des gleichgeschlechtlichen Elternteils ab. Ist der Vater eines männlichen Einzelkindes ältester Bruder von Brüdern, nimmt der Sohn auch Züge, Haltungen und Präferenzen eines ältesten Bruders von Brüdern ein.

10. Zwillinge

Zwillinge sind meistens gleichweit entwickelt, es gibt keinerlei Vorsprung an Erfahrung oder Macht. Durch gleiches Verhalten gegenüber anderen können sie sich deren Kontrolle widersetzen und ihre gemeinsamen Wünsche nachdrücklicher durchsetzen. Haben Zwillinge keine weiteren Geschwister, zeigen sie teilweise auch Charakteristika von Geschwisterpositionen, da oftmals ein Zwilling von der Umwelt zum Älteren ernannt wird. Machen Zwillinge alle zu zweit, fällt es ihnen schwer, sich im Jugend- und Erwachsenenalter voneinander zu lösen. Sie neigen dazu, sich ebenfalls Zwillinge als Ehepartner zu suchen. Wenn Zwillinge noch weitere Geschwister haben, nehmen beide auch die Verhaltensweisen an, die eine einzige Person in der jeweiligen Geschwisterposition hätte.

 

Den Geschwisterpositionen auf den Grund zu gehen, lohnt sich, um das auf einem selbst kauzig wirkenden Verhalten anderer besser zu verstehen. Der Meier zum Beispiel könnte als jüngerer Bruder eines Älteren aufgewachsen sein, was seinen Drang, ständig mithalten zu wollen und besser zu sein, erklären könnte. Frau Linde, die das Lob ihres Chefs genießt und herausfordert, erlebte ihre Kindheit vielleicht als Einzelkind und schätzt den Kontakt zu älteren Personen, von denen sie Anerkennung sucht und dann bekommt. Herr Binz, der sich bemuttern lässt, tat das als jüngerer Bruder einer älteren Schwester womöglich schon sein Leben lang und die Neue im IT-ler-Team kümmerte sich früher zwangsläufig immer um ihre zwei kleinen Brüder.

Noch mehr über Geschwisterpositionen erfahren? In der Ausbildung zum Professional Coach steht auch das Thema Geschwisterpositionen auf dem Lehrplan.



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